Der neue Ostfrieslandkrimi von Marc Freund ist da und heute gibt es eine kleine Leseprobe für alle Fans von friesischer Unterhaltung!
Ein altes Notizbuch mit dunklen Geheimnissen löst eine Kette an Ereignissen aus, die die Inselkommissare auf Trab halten. In der folgenden Leseprobe ereignet sich der Fund des Notizbuches. Viel Spaß!
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Ein bleicher Morgen dämmerte über Langeoog, als die letzten Spuren des vergangenen Unwetters sich langsam verzogen. Der Himmel war noch in ein weiches Grau getaucht, als hielte er den Atem an, doch am Horizont schimmerte bereits ein zartes Gold, ein erstes Versprechen eines warmen Sommertages. Die Insel, noch benetzt von der Nacht, glitzerte unter den verbleibenden Tropfen auf Dächern und Planken, während sich der Wind nur als flüsternde Brise bemerkbar machte.
Im Hafen lag die Luise, sachte in den sanften Wellen schaukelnd, das Holz ihres alten Rumpfes dunkel vom Regen, als wäre er mit einem Schleier bedeckt worden. Sie wartete dort, träge und gemächlich, so wie sie es über einige Jahrzehnte und ungezählte Langeooger Gezeiten hinweg getan hatte und auch weiterhin tun würde.
Tobias Freerks lehnte sich über den geöffneten Maschinenraum seines gebraucht erworbenen Kutters. Er hatte das Herzstück der Luise freigelegt: Den betagten Dieselmotor, dessen eiserne Oberfläche noch feucht von der feinen Gischt des gestrigen Sturms war. Seine Finger, grob und gezeichnet von Jahren harter Arbeit, umschlossen den Schraubenschlüssel, doch seine Gedanken waren weit fort.
Der Kutter hatte dringend eine Überholung nötig. Ein Riss in einer Kraftstoffleitung, Rost an einer der Halterungen – Kleinigkeiten, doch in Summe genug, um eine gefährliche Panne auf hoher See zu riskieren. Freerks hatte das halbe Schiff auseinandergenommen, um den Schaden zu beheben, doch nun, mit der Mechanik offen vor sich, verharrte er einen Moment länger als nötig.
Sein Blick wanderte zur Kajüte, wo er am gestrigen Nachmittag etwas gefunden hatte, das ihn seitdem nicht mehr losließ. Ein Notizbuch, versteckt hinter einer losen Holzverkleidung, gut verborgen, als sollte es niemals ans Licht kommen. Er hatte es mit zittrigen Fingern durchblättert, hatte die zerknitterten Seiten berührt, und was er gelesen hatte, wollte nicht aus seinem Kopf weichen. Es war nichts Banales, keine gesammelten Erinnerungen eines Seemanns, kein einfacher Reisebericht. Es war – er schüttelte unmerklich den Kopf – es war etwas anderes. Etwas, das seine Sinne beunruhigte und seine Gedanken immer wieder an denselben Punkt zurückkehren ließ, so sehr er sich auch bemühte, an etwas anderes zu denken.
Mit einem tiefen Seufzen rieb er sich die Stirn, versuchte, den Druck unter seiner Schädeldecke zu vertreiben.
Der Motor. Er musste sich auf das verflixte Ding konzentrieren, das ihn immer wieder aufs Neue herausforderte. Aber kaum hatte er die Zündleitung zum wiederholten Mal in die Hand genommen, drängte sich das Bild der krakeligen Handschrift auf den beanspruchten Seiten wieder in sein Bewusstsein. Worte, die er nicht mehr vergessen konnte. Dunkle Worte. Einige davon unleserlich, hastig dahingekritzelt, entweder in Dunkelheit oder in höchster Not. Andere wiederum hatten sich zu Sätzen gefügt, die sich mit jeder weiteren Stunde tiefer in sein Hirn einbrannten.
Der Hafen von Langeoog atmete in seinem eigenen Rhythmus, während Freerks weiterarbeitete. Das leise Knarren der Taue, das sanfte Plätschern der Wellen gegen den Bootssteg, das ferne Rufen einiger Möwen, die über den sich langsam aufhellenden Horizont strichen. Er bemerkte kaum, wie die ersten Sonnenstrahlen sich durch die Wolken bohrten und die glatte Wasseroberfläche in ein Mosaik aus Licht und Bewegung verwandelten.
Noch lag Ruhe über dem kleinen Hafen, doch bald würden die ersten Fischer hinausfahren, bald würden Boote ablegen, Netze ausgebracht werden und der Tag seine gewohnte Betriebsamkeit aufnehmen. Dazu die erste Fähre, die von Bensersiel herüberkommen würde. Noch war das alles mehr als eine Stunde entfernt. Freerks war sein Leben lang früh aufgestanden. Er genoss die Stille, die über allem lag und die Welt um ihn herum so friedlich erscheinen ließ.
Doch Freerks wusste, dass für ihn nichts mehr ruhig und gewohnt war. Nicht nach dem gestrigen Tag. Nicht nach diesem Fund. Seine Welt schien sich verändert zu haben, von einem Moment auf den anderen. Er hätte so etwas nie für möglich gehalten.
Er drehte die letzte Schraube an der Halterung fest und richtete sich auf. Die Luise bewegte sich träge, kaum wahrnehmbar, unter seinen Stiefeln, und er spürte das Salz der Luft auf seiner Haut. Noch einmal ließ er seinen Blick zur Kajüte wandern, als könnte er durch das Holz hindurch die dunklen Zeilen erkennen, die sich immer wieder in seine Gedanken schlichen, um sich dort für immer einzunisten.
Vielleicht war es kein Zufall, dass er dieses Notizbuch gefunden hatte. Möglich, dass es dort versteckt worden war, in der Absicht, dass die Wahrheit eines Tages ans Licht kommen möge.
Während Freerks so dastand, in seine düstere Gedankenwelt versunken, fiel ein Schatten vor ihm auf die Planken. Ein menschlicher Umriss.
Der Fischer stieß einen überraschten Laut aus und wirbelte herum. Er starrte den Mann an, der sich etwa einen Meter neben ihm auf dem Steg befand und auf ihn herunterblickte.
»Moin, Tobias. Warum so schreckhaft heute Morgen? Schlecht geschlafen, oder was?«
Das hatte er tatsächlich. Doch das ging niemanden etwas an. Schon gar nicht Lutger Oldendörp, der nur allzu gern seine Nase in alle möglichen Dinge steckte, vor allem in jene, die ihn nichts angingen.
»Moin, Lutger. Nee, ich hab bloß `n büschen Malesche mit `nem vergriesgnaddelten Gewinde.«
»Aah«, machte Oldendörp und verzog dabei leidend das Gesicht. »So was Ähnliches hatte ich neulich mit `ner Schraube. Aber die war zum Glück bloß angegnaddelt. Hab ich einfach ausgetauscht. Brauchst du Hilfe?«
Freerks winkte ab. »Nee, lass mal.«
Der Fischerkollege wirkte erleichtert. »Hätte jetzt auch keine Zeit gehabt. Bei Stine ist es nämlich heute so weit.«
Freerks blinzelte irritiert. »Was ist so weit?«
»Na, wir kriegen heute unser viertes Kind. Ne lütte Deern.«
»Stine ist schwanger?«
Oldendörp kratzte sich am Hinterkopf. »Jau! Das heißt … heute noch. Bis Mittag hat sich das wahrscheinlich erledigt. Sagt Gerda, die Hebamme. Die ist gerade bei ihr.«
»Ach, die.«
»Ich hab gefragt, ob ich was helfen soll, aber das wollten die Frauen nicht. Und dann steht man ja als Mann nur noch blöd im Weg rum. Deswegen hat Gerda mich erst mal rausgeschickt, an die frische Luft. Sie sagt, ich soll mir ruhig Zeit lassen. Meinst du nicht, ich soll dir doch noch mit dem Gewinde helfen?«
»Nee, schon gut«, antwortete Freerks. »Ich glaub, ich brauch sowieso noch anderes Werkzeug von zu Hause.«
»Bist du heute Abend bei der Versammlung?«
Freerks war irritiert. Für einen Moment wusste er nicht, wovon sein Kollege sprach. Bis ihm die Mitteilung vom Fischereiverband einfiel, die er vor etwa zwei Wochen erhalten hatte. »Ich weiß noch nicht. Wahrscheinlich schon.«
»Dann sehen wir uns ja vielleicht noch. Wenn Stine mir freigibt. Es sei denn, ich soll was helfen. Dann natürlich nicht.« Oldendörp trat nachdenklich von einem Bein auf das andere. Dann hob er seine Hand zum Gruß und wandte sich ab.
»Moin, Tobias.«
»Moin, Lutger«, grab Freerks zurück und schob etwas lauter hinterher: »Und alles Gute!«
Oldendörp drehte sich um. »Wofür?« Dann hellte sich sein Gesicht auf und er nickte eifrig. »Ach so, ja! Danke!«
Freerks grüßte zum Abschied und wandte sich wieder dem Motor der Luise zu. Es wurde wieder still um ihn herum. Oldendörps Schritte waren verklungen.
Der Fischer versuchte, sich in seine Arbeit zu vertiefen, doch das war leichter gesagt als getan. Wer hatte die Zeilen geschrieben und das Buch hinter der Holzverkleidung versteckt? Wer auch immer es gewesen war, musste bereits innerlich mit seinem Leben abgeschlossen haben. Die Eintragungen waren ein letztes Zeichen gewesen, eine Art Testament und zugleich eine große Anschuldigung gegen jemanden, der vermutlich damals zu einem Mörder geworden war. Was für grässliche Szenen mochten sich damals an Bord der Luise abgespielt haben?
Ein leises Knarren irgendwo hinter ihm. Das Boot war an manchen Tagen voller seltsamer Geräusche, selbst wenn es, so wie jetzt, im seichten Hafenwasser dümpelte.
Freerks schüttelte in Gedanken den Kopf, versuchte noch immer, seine düsteren Gedanken zu vertreiben, und wandte sich nach rechts, zu seinem Werkzeugkasten. Er brauchte den größten seiner Schraubenschlüssel. Doch sein Griff ging ins Leere. Das Werkzeug war verschwunden!
Er stockte in seiner Bewegung. Wie konnte das sein? Er war sich absolut sicher, dass der große Schlüssel eben noch …
Eine huschende Bewegung hinter ihm. Dieses Mal war kein Schatten zu sehen gewesen. Freerks fuhr herum, blickte in ein verzerrtes Gesicht und öffnete den Mund zu einem Schrei.
Der Schraubenschlüssel blitzte kurz in der Sonne auf, bevor er mit furchtbarer Wucht niedersauste.
Klappentext:
»Er wurde mit seinem eigenen Schraubenschlüssel erschlagen!« Tobias Freerks hat gerade seinen neuen Fischkutter auf Langeoog übernommen, als er an Bord ein Notizbuch mit verstörendem Inhalt entdeckt, der ihm den Atem stocken lässt. Die kryptischen Einträge deuten auf ein verborgenes Verbrechen hin – eine Anklage gegen jemanden, der auf dem Boot zum Mörder geworden sein könnte. Doch bevor Freerks seine Entdeckung vollständig verstehen kann, wird er umgebracht. Die Inselkommissare Gerret Kolbe und Rieke Voss stehen vor einem Labyrinth aus Lügen, Schweigen und verdrängten Geheimnissen. Ist Peter Lausen, der Vorbesitzer des Bootes, tatsächlich der Mörder, auf den die Notizen hinweisen? Oder hat das spurlose Verschwinden einer jungen Frau, die vor vielen Langeooger Gezeiten nach Antworten auf der Insel suchte, eine tiefere Bedeutung für den mysteriösen Fall?
Der Ostfrieslandkrimi »Langeooger Gezeiten« ist bei den bekannten Anbietern erhältlich wie:
Eine Übersicht über die Reihenfolge der Bücher finden Sie hier.
Mehr über die Serie können Sie im Steckbrief erfahren.
Viel Freude beim Lesen wünscht
Das Team von www.ostfrieslandkrimi.de