Ich wünsche allen Freunden von Ostfrieslandkrimis frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr. Die Wartezeit bis zum nächsten Kommissar Steen Krimi überbrückt ihr am besten mit einer Tasse Ostfriesen-Tee mit Kluntjes, Sahne und einem Kurz-Krimi.
Alfred Bekker
Alfred Bekker’s Kommissar Steen und der Ostfriesen-Tee
Kapitel 1
Der Tag begann für Kriminalhauptkommissar Ebbo Steen so, wie er jeden Tag beginnen sollte: mit einer Tasse Ostfriesentee, stark, mit Kluntje und einem Löffel Sahne, der langsam wolkige Schlieren zog. Er saß in seinem Stammcafé am Stadtgarten, die Prinz-Heinrich-Mütze neben sich auf der Bank liegend, den Blick auf den Ratsdelft gerichtet, wo das Feuerschiff „Amrumbank“ träge im Wasser lag. Die Welt war in Ordnung. Bis sein Handy klingelte.
„Steen“, meldete er sich, ohne die Ruhe aus seiner Stimme weichen zu lassen.
Am anderen Ende war Ulfert Jansen, sein junger, technisch versierter Kollege. „Moin, Chef. Du musst in die Faldernstraße. ‚Ankes Teestube‘.“
„Ist der Tee ausgegangen?“, fragte Steen trocken.
„Schlimmer. Anke Voss ist tot.“
Steen seufzte. So viel zur morgendlichen Routine. Als er an der kleinen, schmucken Teestube ankam, deren Fassade mit wildem Wein bewachsen war, standen bereits ein Streifenwagen und der Wagen des Notarztes davor. Johnny Volkerts, penibel wie immer in seiner Uniform, nahm ihn in Empfang. „Moin, Steen. Alles abgesperrt.“
Im Inneren des kleinen, mit Delfter Kacheln und alten Teedosen dekorierten Raumes, war die Szene fast friedlich. Anke Voss, eine beliebte Frau Mitte sechzig, saß an einem der kleinen Tische, den Kopf auf die Tischplatte gesunken, als wäre sie eingeschlafen. Vor ihr stand eine halb leere Tasse Tee und ein angebissener Apfelstreusel.
Der Notarzt, ein junger Mann, der neu in der Stadt war, zuckte mit den Schultern. „Sieht nach Herzversagen aus. Die Dame hatte wohl einen schwachen Kreislauf.“
Altje Remels, die gerade mit hochrotem Kopf hereingestürmt kam, schnaufte. „Herzversagen? Dafür dieser ganze Zirkus? Ich hab heute Morgen schon genug Stress, Steen. Der neue Melkroboter spinnt und die Kühe machen Aufstand.“ Sie fächelte sich mit ihrem Notizblock Luft zu.
Steen ignorierte den Kommentar und trat näher an die Leiche. Er beugte sich hinunter. Ein kaum wahrnehmbarer, süßlich-bitterer Geruch lag in der Luft, der nicht ganz zum Aroma von Tee und Kuchen passte. Er erinnerte ihn an etwas aus seinem Garten. „Ulfert, was meinst du?“, fragte er leise.
Ulfert Jansen kniete bereits neben dem Tisch und hatte sein Smartphone gezückt, mit dem er Fotos aus verschiedenen Winkeln machte. „Keine Kampfspuren. Keine Anzeichen für Gewalt. Aber ihr Gesicht… die Lippen haben eine leicht bläuliche Verfärbung. Das ist nicht typisch für einen einfachen Herzinfarkt.“
„Ich will eine vollständige Obduktion in Oldenburg“, sagte Steen zum Notarzt gewandt. Der Arzt sah ihn ungläubig an. „Herr Kommissar, das ist doch mit Kanonen auf Spatzen geschossen.“ „In der Ruhe liegt die Kraft“, sagte Steen und richtete seine Mütze. „Und in der Gründlichkeit die Lösung. Sorgen Sie dafür, Herr Doktor.“
Kapitel 2
Die vorläufigen Ergebnisse aus Oldenburg trafen am nächsten Vormittag ein und bestätigten Steens Ahnung. Anke Voss war nicht an Herzversagen gestorben. Sie war vergiftet worden. Die Substanz: Oleandrin, ein hochtoxisches Glykosid, gewonnen aus dem Oleanderbusch. Ein paar zermahlene Blätter im Tee oder Kuchen genügten.
Das Team saß im Kommissariat zusammen. Die Luft war dick. „Ein Giftmord, mitten in Emden“, sagte Johnny Volkerts und sortierte seine Notizen. „Das Opfer war allseits beliebt. Keine bekannten Feinde.“
„Jeder hat Feinde, Johnny. Manche wissen es nur nicht“, entgegnete Steen. „Wer erbt?“
„Ihr einziger Verwandter ist ein Neffe, Lars Ehlers“, sagte Ulfert und blickte von seinem Laptop auf. „Betreibt eine kleine Werft, die aber kurz vor der Insolvenz steht. Er erbt die Teestube und das Haus. Ein Motiv wie aus dem Lehrbuch.“
„Altje, du und ich sprechen mit dem Neffen“, entschied Steen. „Ulfert, du nimmst dir die Finanzen der Teestube und die Konkurrenz vor. Johnny, du befragst die Nachbarn und Lieferanten. Jeder, der gestern in der Teestube war, ist ein potenzieller Zeuge.“
Lars Ehlers empfing sie in seiner zugigen Werfthalle am Kanal. Er war ein Mann um die vierzig, mit ölverschmierten Händen und müden Augen. Er wirkte aufrichtig erschüttert. „Meine Tante? Vergiftet? Das ist doch absurd! Wer sollte so etwas tun?“
„Sie erben einiges, Herr Ehlers“, sagte Altje unverblümt. „Und Ihre Firma scheint nicht gut zu laufen.“
Ehlers fuhr sich durchs Haar. „Ja, ich erbe. Und ja, die Werft hat Probleme. Aber ich würde meine Tante niemals… Sie war wie eine Mutter für mich.“
Währenddessen fand Ulfert heraus, dass es eine erbitterte Konkurrentin gab. Silke Hinrichs, die Besitzerin eines modernen Coffee-Shops in der Neutorstraße, hatte mehrfach versucht, Anke Voss die Teestube abzukaufen, um dort eine Filiale zu eröffnen. Anke Voss hatte stets abgelehnt.
Steen und Altje suchten Frau Hinrichs auf. Sie war eine kühle, perfekt gestylte Geschäftsfrau. „Ja, ich wollte den Laden“, gab sie unumwunden zu. „Die Lage ist erstklassig. Aber Mord? Ich bitte Sie. Ich war zur Tatzeit auf einer Messe in Hamburg. Dutzende Zeugen.“
Der Tag endete ohne klaren Durchbruch. Am späten Abend, als Steen allein im Büro saß, rief Ulfert an. „Chef, ich hab was. Auf Ankes Computer war eine E-Mail im Papierkorb. Eine einzige Zeile, vor einer Woche abgeschickt: ‚Du kannst die Vergangenheit nicht ewig vergraben.‘“
„Von wem?“, fragte Steen.
„Absender unbekannt. Wegwerf-Adresse. Aber die IP-Spur führt zu einem öffentlichen WLAN-Hotspot. Der Stadtbibliothek.“
Kapitel 3
Die Ermittlungen am nächsten Tag fühlten sich an wie das Stochern im ostfriesischen Nebel. Johnny Volkerts hatte mit dem Bäcker gesprochen, der Anke Voss täglich den Kuchen lieferte. Der Mann war in Tränen aufgelöst und gestand, seit Jahren heimlich in die Verstorbene verliebt gewesen zu sein. Ein Motiv aus Leidenschaft? Eher unwahrscheinlich.
Steen beschloss, die Sache anders anzugehen. „Ulfert, wer leiht in der Stadtbibliothek Bücher über Giftpflanzen aus?“ Ulferts Finger flogen über die Tastatur. „Gute Idee. In den letzten drei Monaten gab es mehrere Ausleihen von ‚Toxische Flora Norddeutschlands‘. Immer auf dieselbe Person: Dr. Martin Feldmann, pensionierter Botanik-Professor.“
Dr. Feldmann wohnte in einem kleinen Klinkerhaus mit einem prächtigen, fast verwilderten Garten. Er war ein freundlicher, weißhaariger Herr, der sie auf eine Tasse Tee einlud. An den Wänden hingen detaillierte botanische Zeichnungen. „Oleander?“, sagte er und lächelte wissend. „Eine faszinierende Pflanze. Wunderschön, aber in allen Teilen tödlich. Ein Klassiker der Giftliteratur. Anke Voss wurde damit ermordet? Wie tragisch. Sie war eine so reizende Dame, ich war fast jeden Tag in ihrer Teestube.“
Steens innere Alarmglocken schrillten leise. Die Gelassenheit des Professors wirkte unnatürlich. „Sie kannten Frau Voss gut?“, fragte Altje.
„Nur als Gast. Wir plauderten über das Wetter, über Blumen. Oberflächlichkeiten.“
Zurück im Kommissariat kam Ulfert aufgeregt auf Steen zu. „Chef, ich hab die Besucherlisten des WLAN-Hotspots der Bibliothek mit den Ausleihdaten des Buches gekreuzt. Dr. Feldmann war genau zu der Zeit online, als die anonyme E-Mail verschickt wurde.“
Der Kreis schloss sich, aber das Motiv fehlte. Warum sollte ein pensionierter Botanik-Professor eine Teestuben-Besitzerin vergiften, mit der er über Blumen plauderte?
„Die Vergangenheit“, murmelte Steen. „Die E-Mail sprach von der Vergangenheit.“ Er wandte sich an Johnny. „Johnny, fahr ins Archiv. Such alles, was du über Anke Voss finden kannst. Geburtsname, alte Adressen, irgendwelche Vorfälle. Besonders aus der Zeit, bevor sie nach Emden kam.“
Kapitel 4
Der Abend fand Steen wie so oft in Riekes Kneipe am Delft. Auf dem Teller einen Hafenarbeiter, Riekes Spezialität, starrte er aus dem Fenster. „Du siehst aus, als würdest du ein Schiff ohne Ruder durch den Dollart steuern, Steen“, sagte Rieke, während sie ein Glas polierte. „Eher so, als wüsste ich, wer das Ruder in der Hand hat, aber nicht, warum er in den Sturm fährt“, erwiderte Steen.
In diesem Moment betrat Tammo Tjaden, der Reporter des „Neuen Ostfriesenblattes“, die Kneipe. „Kommissar! Der Giftmord in der Teestube! Gibt es eine heiße Spur?“
Steen seufzte. „Wir ermitteln in alle Richtungen, Herr Tjaden. Der Neffe mit den Schulden ist ebenso interessant wie die ehrgeizige Konkurrenz.“ Er gab dem Reporter einen kleinen, saftigen Knochen, um ihn vom eigentlichen Braten abzulenken.
Am nächsten Morgen kam der Durchbruch. Johnny Volkerts, der die halbe Nacht im staubigen Zeitungsarchiv verbracht hatte, legte einen vergilbten Artikel auf Steens Schreibtisch. Der Artikel aus einer Lokalzeitung aus Leer war 30 Jahre alt. Es ging um einen Unfall mit Fahrerflucht. Eine junge Studentin war nachts auf einer Landstraße von einem Auto erfasst und getötet worden. Der Fahrer wurde nie gefunden. Eine Zeugin, eine junge Frau namens Anke Harms, hatte damals ausgesagt, nur schemenhaft ein dunkles Auto gesehen zu haben, das schnell davonfuhr.
„Anke Harms ist der Geburtsname von Anke Voss“, sagte Johnny. Ulfert, der parallel die Datenbanken durchforstet hatte, fügte hinzu: „Und jetzt halt dich fest, Chef. Die getötete Studentin hieß Lena Feldmann. Sie war die einzige Tochter von Dr. Martin Feldmann.“
Steen schloss die Augen. Das war es. Das fehlende Puzzleteil. Er und Altje fuhren erneut zu Dr. Feldmann. Der Professor saß in seinem Garten und beschnitt Rosen. „Herr Dr. Feldmann“, begann Steen ohne Umschweife. „Wir müssen über Ihre Tochter Lena reden. Und über Anke Harms.“
Das Lächeln gefror auf dem Gesicht des alten Mannes. „Anke hat damals gelogen“, sagte Steen leise. „Sie hat den Fahrer gekannt und gedeckt. Es war wahrscheinlich ihr damaliger Freund. Sie ist danach aus Leer weggezogen, hat ihren Namen geändert und hier in Emden ein neues Leben angefangen.”
“Aber Sie haben sie gefunden, nicht wahr? Sie sind ihr gefolgt. Haben sich als freundlicher Stammgast getarnt und jeden Tag in ihrem Café gesessen.“
Feldmann ließ die Gartenschere fallen. „Sie hat es zugegeben“, flüsterte er, seine Stimme brüchig. „Letzte Woche. Ich habe sie mit alten Fotos konfrontiert. Sie hat alles gestanden. Aber sie wollte nicht zur Polizei. Es sei verjährt, sagte sie. Sie wollte das Andenken an meine Tochter nicht mit einem alten Skandal beschmutzen.“ Tränen liefen über das Gesicht des Professors. „Sie hat den Tod meiner Lena auf ihrer Seele gehabt und Apfelstreusel serviert. Jeden Tag. Sie hat gelächelt. Das konnte ich nicht ertragen. Die Justiz hat versagt. Also habe ich… für Gerechtigkeit gesorgt. Mit den Mitteln, die mir die Natur zur Verfügung stellt.“
Kapitel 5
Im Kommissariat herrschte eine gedämpfte, fast melancholische Stimmung. Johnny Volkerts tippte mit zwei Fingern den Abschlussbericht, jedes Wort vorschriftsmäßig und präzise. Altje Remels lehnte an der Tür und starrte nach draußen. „Ein Leben für ein Leben. Und am Ende sind alle tot oder im Gefängnis. Manchmal frag ich mich, ob der neue Melkroboter nicht das kleinere Übel ist, Steen.“
Ulfert Jansen nickte nur und schickte die letzten digitalen Akten an die Staatsanwaltschaft.
Kommissar Steen saß an seinem Schreibtisch und sah auf die leere Teetasse vor sich. Er dachte an den alten Professor, dessen Garten voller wunderschöner, tödlicher Pflanzen war. Alte Sünden, hatte sein Großvater immer gesagt, werfen lange Schatten. Manchmal so lang, dass sie ein ganzes Leben verdunkeln.
Er stand auf, zog seinen Bundeswehrparka an und setzte seine Mütze auf. „Ich geh einen Tee trinken“, sagte er in die Stille des Büros. „Einen ganz normalen.“ Und für einen kurzen Moment, als er durch die Gassen von Emden ging, war die Welt wieder in Ordnung.
ENDE