Ein Toter am „Netzflicker“, zwei rachsüchtige Brüder und ein angeschossener Ex-Kommissar. Die Leseprobe zum neuen Ostfrieslandkrimi von Jan Olsen!
Der nächste Titel der Reihe „Polizei Greetsiel ermittelt“ ist da. Diesmal dreht sich alles um eine vergangene Familientragödie, die erneut aufgerollt wird. Mit dieser kleinen Leseprobe wollen wir eure Neugier wecken und euch auffordern, das Rätsel selbst zu lösen.
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Mit wiegendem Seemannsschritt schlenderte Tido Looke im Windschatten des Deiches gemächlich an der Kaimauer entlang. Vom gegenüberliegenden Ufer des Hafens, wo die Greetsieler Krabbenkutter festgemacht waren, schallten die Rufe und das Lärmen der Fischer herüber, die sich frühmorgens auf die bevorstehende Fangfahrt vorbereiteten.
Tido winkte den Männern und Frauen zu, die jedoch kaum Notiz von dem alten Mann drüben beim Anleger für die Touristenfahrten nahmen. Viel zu sehr waren sie mit dem Ausrichten der Netze und dem Überprüfen der Siedevorrichtungen für die Krabben beschäftigt. Wenn einer trotzdem den Gruß erwiderte, geschah dies fahrig und beiläufig, denn der Siebzigjährige war ein griesgrämiger, mürrischer Zeitgenosse, der es seinen Mitmenschen im Umgang mit ihm nicht eben leicht machte und darum nicht gerade beliebt war.
Trotzdem galt Tido Looke in Greetsiel als wichtiger Mann. Fast an jedem Netz, das da trocken von den hoch aufgestellten Auslegern der Kutter herabhing, hatte er sich in seiner Werkstatt schon einmal zu schaffen gemacht. Denn wurde ein Netz während des Fischens zerrissen, was nicht selten geschah, kamen die Eigner nicht umhin, ihn, Tido, aufzusuchen und zu bitten, die schadhafte Stelle in dem Geflecht zu reparieren.
Die Arbeit des Netzflickers verrichtete Tido nun schon seit fünf Jahren, und es gab in ganz Ostfriesland wohl keinen, der diesen Job gekonnter verrichtete als er, jedenfalls wurde ihm dies von seinen Kunden ständig versichert. Da es außer ihm allerdings nur noch sehr wenige gab, die dieses Handwerk als Beruf ausübten, wog dieses Lob für ihn nicht besonders schwer. Nichtsdestotrotz war Tido stolz auf das, was er tat.
Als er noch jung und, ja, auch unschuldig gewesen war, wie er wehmütig dachte, hatte er selbst einen Krabbenkutter besessen und war hinaus auf die Nordsee gefahren, um Granat zu fangen, wie die Krabben hier genannt wurden. Irgendwann war er der harten Knochenarbeit nicht mehr gewachsen gewesen und hatte sich nach einer ruhigeren und weniger gefährlichen Tätigkeit umgeschaut.
Tido machte ein finsteres Gesicht. Seinen Kutter, die Granate, damals verschrotten zu lassen, war ihm nicht schwergefallen, denn zu viele unliebsame Erinnerungen waren mit dem alten Kahn verbunden gewesen. Erinnerungen, die er zu seinem Leidwesen trotzdem nicht losgeworden war, nachdem die Granate von dem Schrotthändler abgeholt worden war.
Tido erreichte jetzt die Bronzeskulptur des Netzflickers. Diese lebensgroße Darstellung eines Mannes in Seemannskluft stammte von dem Esenser Bildhauer und Maler Hans-Christian Petersen, der auch für Emden, Neuharlingersiel, Eversmeer und Carolinensiel ähnliche Plastiken angefertigt hatte. Der Netzflicker saß auf einer robusten Bohle, die ihm als Bank diente.
Er hatte ein Fischernetz auf den Beinen ausgebreitet, an dem er gerade arbeitete. Mit seiner Schippermütze auf dem Kopf schaute der Netzflicker zur Seite, als würde er einem Gedanken nachhängen, der ihm während der Arbeit gekommen war – so jedenfalls interpretierte Tido diese Pose. Es musste ein schöner Gedanke sein, denn das Gesicht mit dem schmalen Kinnbart wirkte entspannt und freundlich, worum Tido ihn jedes Mal beneidete.
Die Seele dieses Netzflickers war rein und sein Gewissen wurde durch keine üble Tat belastet, die er in der Vergangenheit womöglich verübt hatte. Er war ein in sich ruhender und mit seiner Arbeit zufriedener Mann, der sich für einen Moment seinen Tagträumen hingab, eher er mit seiner Arbeit fortfahren würde. Dies alles drückte diese Bronzefigur in Tidos Augen aus. Und deshalb kam er so gerne hierher.
So wie auch an diesem frühen Morgen, an dem sich der erwachende Himmel silbrig im Wasser des Hafens spiegelte und die Möwen auf der Suche nach Essbaren laut krakeelend ihre Runden drehten.
Wie immer ließ es sich Tido nicht nehmen, sich neben den Bronzemann auf die Bohlenbank zu setzen und einen Moment zu verschnaufen. Tido sah der Statue des Netzflickers sehr ähnlich. Er trug annähernd dieselbe derbe Kleidung, hatte eine Schippermütze auf dem Kopf und sein Kinn zierte ein schmaler Bart. Seine kräftigen Hände wiesen Schwielen von der Netzflickerei auf und seine Füße steckten in derben Stiefeln.
Einen entspannten, zufriedenen Ausdruck suchte man in Tidos Gesicht allerdings vergebens. Ein bitterer Zug umspielte seine Lippen, und die tief eingegrabenen Falten hatten nicht nur das Alter, die Sonne, der Wind und die salzige Meeresluft in sein Antlitz gekerbt, da war etwas Finsteres, Unnahbares, das seiner ganzen Erscheinung die weise, abgeklärte Ausstrahlung raubte, die dem Bronzemann an seiner Seite innezuwohnen schien.
Tido seufzte schwer. Nervös bewegte er die Hände, die ruhelos auf seinem Schoß lagen. Es sah aus, als hantierte er gerade mit den Nadeln, die kleinen Webschiffchen ähnelten, um ein schadhaftes Netz zu flicken. Aber in Wahrheit war es sein zerrissenes Inneres, das er an der Seite der Statue sitzend auszubessern versuchte. Es waren die Löcher, die seine üblen Taten in seine Seele gerissen hatten, die seine geübten Finger jetzt nervös beschäftigten.
Doch so sehr er sich auch mühte, musste er doch erkennen, dass seine Fertigkeiten in diesem Fall nicht ausreichten. Er war für immer zerrissen und würde niemals so selbstvergessen vor sich hin sinnieren können, wie es sein bronzener Kollege tat. Immer wieder würde die Erinnerung ihn überkommen und seinen Blick verfinstern und seine Gesichtszüge grimmig und unglücklich erscheinen lassen.
Trotzdem genoss Tido diese Momente im Licht der aufgehenden Sonne, die er an der Seite der bronzenen Statue verbrachte. In diesen frühen Morgenstunden lag die Verweilzone zumeist verlassen da, in die die ehemalige Landzunge »End vant’t Stück« vor Jahrzehnten verwandelt worden war. Von hier aus ließ sich die imposante Kutterflotte ungestört beobachten und ein schönes Erinnerungsfoto oder eine Videoaufnahme vom Ein- und Auslaufen der Schiffe machen.
Tido drehte sich dem Hafen zu und ließ den Blick über die bunten Krabbenkutter schweifen. Das erste Mal in seinem Leben fragte er sich, ob er wohl Linderung erfahren würde, wenn er Greetsiel verließ, anstatt, wie auch an diesem Morgen, durch den Anblick der Kutter an das Schlimme erinnert zu werden, das er getan hatte.
Verblüfft hob er eine Schulter, als ihm der Grund für sein Verweilen klar wurde: Er wollte nicht nur wegen Rieke, seiner Frau, in Greetsiel bleiben, die hier geboren worden war und nicht im Traum daran denken würde, irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen. Nein, er blieb auch deswegen, weil er nicht vergessen wollte. Denn wenn er vergaß, was er getan hatte, würde dies alles nur noch viel schlimmer machen. Er wäre dann erst recht ein skrupelloser, gewissenloser alter Mann und nicht würdig …
Der Gedanke riss ab. Tido spürte kurz einen befremdlichen Schmerz an seiner linken Schläfe. Dann spürte er gar nichts mehr. Sein Körper erschlaffte und sein Kopf sank seitlich auf die Schulter der Bronzestatue, sodass es schien, als wollte er sich kurz an den Netzflicker anlehnen, um die Kraft zu finden, auch einmal einem schönen Gedanken nachzuhängen.
Aber Tido Looke war gar nicht mehr fähig zu denken, denn er hatte aufgehört zu leben. Doch dies sollte erst zwei Stunden später von einem Touristen aus Rüsselsheim bemerkt werden.
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Klappentext zum Ostfrieslandkrimi:
»Keno und Tim müssen es gewesen sein! Sie haben ihn ermordet!« An der Greetsieler Bronzeskulptur »Der Netzflicker« wird eine Leiche entdeckt – ausgerechnet der Krabbenfischer Tido Looke, der selbst auch als Netzflicker gearbeitet hat. Haben die Brüder Keno und Tim Harm sich für den Tod ihres Vaters gerächt? Dieser war vor Jahren von einer Kutterfahrt, bei der auch Tido an Bord war, nicht zurückgekehrt. Trug Tido die Schuld an dem Unglück und hatte all die Jahre gelogen? Die Greetsieler Ermittler Ruth Fasan und Hagen Reese rollen den alten Fall neu auf. Kurz darauf wird der Ex-Kommissar Peer Wieler, der damals ermittelt hatte, vor den Augen der Polizei angeschossen. Wer geht so ein Risiko ein, gefasst zu werden? Ein Fund bei den Harm-Brüdern scheint den Fall endgültig zu klären – bis sich abzeichnet, dass der Ermordete mit seinem Krabbenkutter mutmaßlich in noch einen weiteren Todesfall verwickelt war …
Der Ostfrieslandkrimi »Die Leiche des Netzflickers« ist als E-Book und Taschenbuch bei den bekannten Anbietern erhältlich wie:
Eine Übersicht über die Reihenfolge der Bücher finden Sie hier.
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Viel Freude beim Lesen wünscht
Das Team von www.ostfrieslandkrimi.de